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Nachhaltiger Hedonismus: Bedürfnisse entlarven

In einer Zeit, in der die extreme Rechte weltweit auf dem Vormarsch ist und Europas grüne Vision an Kraft verloren hat, erscheint es zunehmend schwierig, das dominante Paradigma von Erfolg und einem guten Leben zu verändern. Individuelle Freiheit und das Streben nach Glück werden oft mit Egoismus, Selbstbezogenheit und destruktiven Ansprüchen verwechselt. Dies spiegelt sich in einer Kultur des radikalen Hedonismus wider – dem Streben nach unmittelbarem Vergnügen, dem Konsum als Lebensziel und der Reduktion anderer Menschen und Objekte auf ihren Nutzen für unseren eigenen Genuss. Die neoklassische Wirtschaftstheorie verstärkt diese Vorstellung weiter, indem sie Konsum als Motor der Wirtschaft betrachtet.

Individuelle Freiheit und das Streben nach Glück werden oft mit Egoismus, Selbstbezogenheit und destruktiven Ansprüchen verwechselt.

Gleichzeitig erkennen immer mehr Menschen, dass die Ressourcen der Erde begrenzt sind, dass der Lebensstil der Wohlhabenden nicht nachhaltig ist und dass wir radikal andere wirtschaftliche und kulturelle Normen brauchen. Der einfache ethische Imperativ lautet: Füge anderen durch dein Handeln keinen Schaden zu. Doch die Herausforderung der notwendigen Systemveränderung fühlt sich oft überwältigend an und kann uns ängstlich oder machtlos machen.

Gerade deshalb brauchen wir positive Nachrichten und ermutigende Erzählungen – keine falsche Zuversicht, sondern echte, authentische Alternativen. Sie sind essenziell für unser eigenes Wohlbefinden und unsere Resilienz, aber auch als Inspiration für unsere Kinder und all jene, die offen für neue Wege sind und nicht blind gesellschaftliche Normen befolgen wollen, die sie krank, unglücklich oder verwirrt machen.

Von Aristoteles und Epikur lernen

Die Idee, den eigenen Lebensstil ökologisch anzupassen, löst bei vielen Unbehagen aus. Sie scheint mit Verzicht und dem Verlust bestehender Ansprüche oder Zukunftshoffnungen verbunden zu sein. Doch genau hier liegt die Herausforderung: Wir brauchen neue Visionen eines guten Lebens, die Glück, Genuss und Freude nicht ausschließen, sondern auf nachhaltige Weise ermöglichen.

Unsere Beziehung zum Vergnügen muss neu definiert werden. Viele von uns haben das Gefühl, mehr und nicht weniger Vergnügen zu brauchen. Doch zugleich ist offensichtlich, wie oft die Suche nach Vergnügen scheitert. Wir leiden, wenn unsere Wünsche unerfüllt bleiben – und manchmal auch, wenn sie erfüllt werden. Beispiele sind impulsive Einkäufe, die nach kurzer Zeit bereut werden, exzessiver Konsum, gesundheitsschädliche Exzesse oder Abhängigkeiten. Auf gesellschaftlicher Ebene führt radikaler Hedonismus zu Umweltzerstörung und sozialen Ungerechtigkeiten

Die alten hedonistischen Philosophen können uns inspirieren, bewusste Hedonisten zu sein: das Leben in vollen Zügen zu genießen, ohne unseren Wünschen blind zu folgen. Es ist ein Prozess, eine Praxis, ein Weg der inneren Freiheit. Aristoteles empfahl einen Mittelweg zwischen schmerzhafter Askese und exzessiver Selbstgefälligkeit – der Schlüssel liegt in der Selbstbeherrschung. Diese ist nicht mit Selbstverleugnung zu verwechseln: Wer Selbstbeherrschung entwickelt, empfindet es nicht mehr als Leiden, Impulsen nicht nachzugeben.

Die moderne Wissenschaft bestätigt dies: Studien zeigen, dass Menschen, die sich bewusst für einen minimalistischen oder umweltbewussten Lebensstil entscheiden, oft ein höheres Wohlbefinden erfahren. Entscheidend ist, dass diese Wahl freiwillig erfolgt und mit den eigenen Werten übereinstimmt.

Genuss ist jedoch nicht das höchste Gut im Leben. Vielmehr ist es Glück oder „blühendes Leben“ (Eudaimonia), wie Aristoteles es ausdrückte. Er betrachtete Glück nicht als Laune der Götter oder als Produkt äußerer Umstände wie Reichtum oder Erfolg, sondern als Ergebnis bewusster Lebensgestaltung. Wir werden mit Glück belohnt, wenn wir unsere Tugenden pflegen und unser Handeln an inneren Werten ausrichten.

Auch Epikur betonte die Wichtigkeit der Reflexion: Nicht alle Wünsche sind es wert, verfolgt zu werden. Eitle und leere Bedürfnisse sollten entlarvt werden, um sich auf das zu konzentrieren, was wirklich zur Freude beiträgt. Ein nachhaltiger Hedonismus – meine eigene Terminologie, die sowohl provozieren als auch inspirieren soll – bedeutet, freudvolle Momente zu schätzen, ohne sich von Begierden beherrschen zu lassen.

Freundschaften und soziale Gemeinschaften sind entscheidend für unser persönliches Glück – eine Erkenntnis, die bereits Aristoteles hatte und die moderne psychologische Forschung eindrucksvoll bestätigt. Unser Wohlbefinden wird nicht nur durch unsere eigenen Entscheidungen geprägt, sondern auch durch unser Umfeld. Gleichzeitig hinterlässt unser Handeln Spuren und formt die Welt mit. Denn wir sind untrennbar mit ihr verbunden – nicht als isolierte Individuen, sondern als Teil eines größeren Ganzen.

Aristoteles betont die Notwendigkeit, Tugenden durch Übung und konsequentes Handeln zu entwickeln, da sie die Grundlage für ein gutes Leben sind, das zu Glück führt. Er nannte einige Tugenden, die auch in unserer heutigen Welt nützlich sein können. Tugenden wie Besonnenheit, Mut und Sanftmut können nicht nur zu innerem Frieden und Autonomie führen, sondern auch zu bewussterem Konsum, kooperativerem Verhalten und gesellschaftlichem Engagement.

Studien zeigen, dass Menschen mit einem nachhaltigen Lebensstil, wie weniger Konsum, Teilnahme an solidarischer Wirtschaft, oft nicht auf Lebensqualität verzichten, sondern im Gegenteil ein größeres Wohlbefinden erleben. Entscheidend sind Freiwilligkeit, nichtmaterialistische Werte, weniger Einfluss durch Werbung und inspirierende Vorbilder.

Geld und Status

Natürlich bleibt es eine Herausforderung, Menschen mit extrinsischen Lebenszielen (zum Beispiel Status, Geld) für eine nachhaltige Vision zu gewinnen. Doch es ist möglich: Es ist belegt, dass neue positive Erfahrungen und gezielte Anleitung die Werte und Verhaltensweisen von Menschen nachhaltig verändern können.

Im Buch „Nachhaltiger Hedonismus. Ein glückliches Leben kostet nicht die Welt“ verbinde ich Perspektiven aus Glücks- und Verhaltensökonomie, positiver Psychologie, Sozialtheorie, antiker Philosophie und Erfahrungslernen, insbesondere dem Psychodrama. Ich will damit zu einer tiefgehenden inneren und äußeren Erkundung einladen und zeigen, wie ein freudvolles, bewusstes Leben mit Nachhaltigkeit vereinbar ist.

Die Autorin ist Coach, Ökonomin und Sozialwissenschafterin. Sie forscht zu Gemeinwohl und nachhaltigem Wohlbefinden.

Diesen Artikel lesen Sie unter dem Titel „Bedürfnisse entlarven“ in der Printausgabe der FURCHE vom 6. März 2025.